Am 13. Februar 1990 hängte mein Kollege Ludwig einen metallenen Briefkasten im Treppenhaus der Freien Schule auf. Danach gefragt, wofür der Briefkasten sei, erklärte er den Kindern, daß sie von nun an ihre Briefe an andere Kinder oder uns Erwachsene in diesen neuen, „echten“ Briefkasten werfen könnten. Kurze Zeit später füllte er sich unaufgefordert mit zwei Dutzend Kinderbriefen.
Am liebsten hätten ihn die Kinder sofort geleert. Aber das wollten wir Erwachsenen nicht zulassen. Wir argumentierten: „Sonst kommt der Briefträger auch erst am nächsten Tag.“ Stattdessen schlugen wir vor, daß der Briefkasten täglich einmal, und zwar morgens geleert würde. Viele Kinder wollten unbedingt BriefträgerIn sein.
Damit keine der beiden Schulgruppen benachteiligt würde, sollte abwechselnd aus der jüngeren und der älteren Schulgruppe ein Kind Briefträgerln sein. (In den Jahren 1986 bis 1989 gab es eine Schulgruppe, seit dem Schuljahr 1989/90 existieren zwei altersgemischte Schulgruppen. In die jüngere gingen im Frühjahr 1990 zehn Kinder des ersten und zweiten Jahrganges, die ältere setzte sich aus insgesamt elf SchülerInnen des dritten und vierten Jahrganges zusammen.
Auf der Besprechung am nächsten Morgen erstellten wir einen Briefträgerplan. Bei 21 Schulkindern und fünf Schultagen pro Woche war nach etwa vier Wochen jede/r einmal an der Reihe. Der Briefkastenschlüssel wurde von den Erwachsenen verwaltet und morgens der Briefträgerin bzw. dem Briefträger ausgehändigt. Sie oder er trug dann vor der Besprechung die Post aus.
Unser „Schreibprojekt“ hatten wir LehrerInnen kurz zuvor auf einer Fortbildung geplant. Wir wollten in der Schule mehr – sinnvolle, anregende – Schreibanlässe schaffen. Das Schreiben sollte dabei Spaß machen, möglichst in den Alltag integriert sein. Mit dem Schulbriefkasten wollten wir den Kindern und uns Erwachsenen die Gelegenheit bieten, die schulinterne Kommunikation zu fördern bzw. ihr einen anderen – auch verschriftlichten – Ausdruck zu verleihen.
Der Briefkasten war das wesentliche, im Grunde das einzige Utensil unseres „Schreibprojektes”. Darüberhinaus stellten wir Lehrerinnen verschiedene Papiersorten, Stifte, Zeit fürs Schreiben und uns zur Verfügung, als SchreiberInnen, AdressatInnen, SchreiblehrerInnen, RechtschreibkennerInnen usw. Wir boten in beiden Schulgruppen so gut wie jeden Morgen nach der Besprechung (Briefe-) Schreiben an. Wir LehrerInnen schrieben in dieser Zeit, so weit möglich, ebenfalls Briefe.
Auch wenn wir LehrerInnen immer wieder einzelne Kinder danach fragten, ob sie nicht einen Brief schreiben wollten, so bestand für sie keine Verpflichtung dazu. Die Kinder haben ihre Briefe meist selbständig, ohne Hilfe verfaßt. Gelegentlich haben sie andere Kinder oder uns LehrerInnen gefragt, an wen, was und wie sie etwas richtig schreiben sollten. Daraufhin haben wir ihnen entsprechende Anregungen und Hinweise gegeben. Letztendlich lag es in ihrer Hand, worauf, womit, an wen, wie lange, wieviel und wo sie die Briefe verfaßten. So gesehen erfüllen diese Umstände Freinets Anforderungen an „Freie Texte“. Denn Freinet nennt als Bedingungen für das Verfassen „Freier Texte“ die freie Wahl des Ortes, der Zeit, des Umfanges, der Grammatik, der Arbeitsmittel und der graphischen Ausgestaltung.
Die Briefe bewegten sich so in einem halb öffentlichen, halb privaten Rahmen. Oft waren sie mit persönlichen Mitteilungen versehen. Die Briefe wurden meist für sich gelesen, manchmal unter Mithilfe anderer Kinder oder von uns Erwachsenen entziffert, vielfach beantwortet, gelegentlich direkt in den Papierkorb geworfen oder auch einfach liegen gelassen.
Sie wurden nicht öffentlich vorgelesen, selten korrigiert, auch nicht inhaltlich verbessert oder überarbeitet, unterlagen somit keinen (sichtbaren) didaktischen Ansprüchen. Die später dargestellten:, und kommentierten Briefe waren ausschließlich an uns LehrerInnen gerichtet. Aus dem Zeitraum von Mitte Februar bis Mitte März 1990 liegen mir etwa 100 Briefe allein an uns LehrerInnen vor. Die Zahl der Briefe, die sich in dieser Zeit die Kinder untereinander geschrieben haben, schätze ich auf Doppelte bis Dreifache. Von ihnen besitze ich einen einzigen, der im Papierkorb lag. Ich habe die Kinder auch nicht um ihre Briefe gebeten. Ich wollte ihr „Briefgeheimnis“ nicht noch weiter strapazieren, als es sowieso schon mit meiner schriftlichen, öffentlichen Darstellung „aufgeweicht“ worden ist.
Vielfach beinhalten die Briefe nicht nur Texte, sondern – auch – gemalte Bilder oder kleine Basteleien aus Buntpapier oder Pappe. Solche Briefkunstwerke stammen eher von den jüngeren Schulkindern (1. und 2. Jahrgang) und den Mädchen. Es scheint: Briefe sind für die Kinder Ausdruck, Mitteilung und. Kontaktaufnahme in unterschiedlicher Form, in der verschiedene Aspekte, z.B. inhaltliche, ästhetische, künstlerische, emotionale, soziale, handwerkliche, verschriftlichte Aspekte zusammentreffen (können).
Ein Brief ist oft nicht nur ein Text, sondern ein Bild, ein Gemälde, ein Kunstwerk etc…
Nicht nur die Form der Briefe, sondern auch ihre Inhalte bzw. Absichten sind vielfältig. Die Briefe bzw. ihre AutorInnen wollen erzählen, mitteilen, fragen, nachfragen, auffordern, bestätigen, einen Wunsch ausdrücken, kritisieren, beschimpfen etc. :
In diesem Exkurs will ich knapp versuchen darzustellen, welche Überlegungen wir zum Schreiben anstellen und welchen Wert wir selbstgeschriebenen Texten – wie beispielsweise diesen Kinderbriefen – beimessen.
Überlegungen zum Schreiben sind an unserer Schule an verschiedenen Stellen wiederzufinden und nicht immer einheitlich formuliert. Im 1986 genehmigten Konzept der Freien Schule Marburg, auf Elternabenden, in gemeinsamen Fortbildungen der MitarbeiterInnen, an speziellen Wochenenden von Eltern und LehrerInnen usw. Ich kann hier nicht die einzelnen Diskussionen und Positionen wiedergeben.
Die von mir im Text wiedergegebenen Briefe lehnen sich in ihrer Schreibweise und Gestalt(ung) so weit wie möglich an die Originale an. Von daher bereitet es gelegentlich Mühe, die Texte zu entziffern. Mit anderen Worten: Die Rechtschreibung der Kinder läßt oft zu wünschen übrig. Immer wieder werden innerhalb und außerhalb der Freien Schule Marburg Fragen darüber gestellt und – tiefgehende – Zweifel formuliert, ob, wann und wie denn die Kinder das Rechtschreiben lernten.
Die Kinderbriefe waren für uns Lehrerinnen nicht der Ort, um Rechtschreibung zu üben. Hier ging es uns vor allem um den Spaß am Schreiben. Wir wollten die Privatpost der Kinder nicht gleichsam zensieren. In anderen Situationen hat das Rechtschreiben ein stärkeres Gewicht, wenn es etwa um die Veröffentlichung von Geschriebenem geht – Drucken von Texten in der Freinet-Druckerei, Erstellen von Plakaten etc. – oder in gezielten Rechtschreibkursen.
Die Briefe vor allem der jüngeren Schulkinder (1. und 2. Jahrgang) sind stark lautorientiet, manchmal auch lauttreu geschrieben. Dies entspricht der Konzentration der Jüngeren auf den Klang und die Artikulation der Worte. Die Texte der älteren Schulkinder (3. und 4. Jahrgang) sind gelegentlich umfangreicher, des öfteren in Schreibschrift geschrieben und mit vergleichsweise weniger Rechtschreibfehlern behaftet. Ihre Fehler beziehen sich im wesentlichen auf Groß- und Kleinschreibung, Dehnungen (ie), Konsonantenverdopplungen und Satzzeichen (Kommasetzung). Dies resultiert daraus bzw. zeigt, daß die – älteren – Kinder sich im Laufe der Zeit mehr mit Fragen der Rechtschreibung auseinandergesetzt und dabei – z.T. über eigene Hypothesenbildung – Rechtschreibregeln verinnerlicht haben.
Es läßt sich an den Briefen jedoch insgesamt ablesen, daß die Kinder mit zunehmendem Alter sich der Normschreibweise annähern. Diese Erfahrungen haben manche Eltern erleichtert, die vorher von Sorge um die Rechtschreibung ihrer Kinder geplagt waren. Wie oben knapp skizziert, versuchen wir die Interessen der Kinder ernst zu nehmen und zum Gegenstand ihrer Schreibaktivitäten werden zu lassen. Deswegen betrachte ich die Schreibprozesse im folgenden wesentlich unter inhaltlichen Gesichtspunkten. Dabei habe ich die Briefe in vier Themenbereiche eingeteilt. Diese Unterscheidung ist ebenso unscharf wie ihre Reihenfolge keine Wertung darstellt. In allen Briefen schwingt z.B. immer auch die Beziehung zwischen Schreiberln und Empfängerln mit.
Astrid wird von Jana gefragt „Wann machen wir denn wieder Linol? Schreib mir auch mal einen Brief.“ Astrids Person und kreative Fähigkeiten sind begehrt, gerade auch bei den älteren Mädchen wie Jana. Dies nicht ohne Grund. Astrid ist die einzige weibliche Bezugsperson in beiden Schulgruppen und ist seit Sommer 1989 aus verschiedenen Gründen hauptsächlich Lehrerin in der jüngeren Schulgruppe. Dagegen schreibt Hille: „van macen wir mal wider Schmuk mir hat es schps geh macht.“ Ihrer Freundin Babsi geht es eher wie Jana: „ich würde auch lieber linoltruk machen als schmug.“ Egal was, die Mädchen möchten gerne mehr mit Astrid machen. Die Briefe drücken auch einen Wunsch nach Abwechslung, nach Wiederholung und Erweiterung kreativer Tätigkeiten aus.
Der Musiklehrer Karl bekommt aus der Musikgruppe, die seit Jahresbeginn läuft, widersprüchliche Botschaften. Einerseits erhält er zwei Aufforderungen zur vorübergehenden Einstellung des Flötenunterrichtes: „WiR so 9 WOCHENKENFÖTN . MACHEN“ (Wir sollen 9 Wochen kein Flöten machen, M.P.) und „CHWIiL EINE PAUSE MACHEN“. Andererseits schreibt Sabine in einem Brief zum“ HIRE AUFGLABEN“: „KARL WAN DUST DU MIR BEI FLUTEN EINEN NUEN GRW (Griff,M.P.) BEI BRINGEN“? Der Flötenkurs wird tatsächlich bis Ostern eingestellt, danach wieder – in neuer Besetzung – ins Leben gerufen. Wie von Sabine gewünscht, macht Karl mit ihr weiter, übt montags mit ihr alleine. Solche Individualisierung ist vom Konzept der Freien Schule her beabsichtigt, aufgrund kleiner Gruppen, Doppelbesetzungen der Lehrerinnen und Ganztägigkeit immer wieder möglich.
Seit Schuljahresbeginn habe ich mit Martin Verabredungen zum Lesen. Lange Zeit hat Martin sich nicht getraut, sich das zu holen, was er wollte. Deshalb bin ich stärker auf ihn zugegangen, habe ihn regelmäßig auf Lesen angesprochen. Manchmal treffen wir uns wöchentlich zwei- oder dreimal, manchmal auch zwei oder drei Wochen nicht. Meistens üben wir alleine Lesen, da er sich durch andere Kinder (eher) gestört und gehemmt fühlt. Er schreibt mir, nachdem ich ihn in einem vorangegangenen Brief nach dem Lesen gefragt hatte: „MIR GEFELT DAS LESEN“ Ich freue mich über seinen Brief.
Thomas ist nach zweieinhalb Jahren Regelgrundschule vor kurzem zur Freien Schule übergewechselt und teilt Ludwig mit: „In der Schule fandichgarnichts schön und im Turnen wares greslich ich find es hir ser schön dieLerer und die Kinder sind hir sehr nett“
Nach vier Monaten bekräftigt Thomas auf meine Nachfrage hin sein Urteil über LehrerInnen und Kinder an der Freien Schule.
Astrid erhält von Hille ein Herz geschickt. Es ist ein doppeltes aus Pappe, zum Aufklappen. Innen ist weißes Papier eingeklebt. Ein Fisch stellt sich beim Öffnen über einen papierenen, selbst gebastelten Hebelmechanismus auf.
Hille schreibt: „Ich gaube wenn ich Traurig aussehe bin ic h nicht Traurig hoffentlich gehs DIR gut“ Was sagt sie damit? Ist sie traurig oder kann sie es nicht nach außen zugeben? Astrid hatte sie auf ihr trauriges Gesicht hin angesprochen. Warum schreibt Hille gerade „traurig“ zweimal mit großem T? Ist es nicht ein Zeichen für die Größe ihrer Trauer?
Kuscheltiere sind nicht nur an der Freien Schule beliebt. Dies trifft für die älteren Schulkinder – im Alter von acht bis zehn Jahren – mindestens ebenso stark zu wie für die jüngeren. Einmal habe ich an das (wichtigste) Kuscheltier eines jeden Kindes der jüngeren Schulgruppe geschrieben, an Gorilli, Brumi, Samson, Mambamba, Fridolin, Mausi Qui, Tausi, Waschbäri Lux, Lemmi und Igli. Ich habe leider keine Antwort bekommen, da die Kuscheltiere laut Auskunft ihrer „Eltern“ zwar lesen, aber noch nicht schreiben konnten.
Susi schickt Karl die kopierte Photographie eines Koalabären. In den Briefumschlag, den Karl „Forsichtig öfnen“ soll, schreibt sie „ich finde Koalaberen einfach nidlich“. Babsi tut Ähnliches, neben einer anderen. Koalabärenkopie bemerkt sie „Das bin ich“ und im Briefumschlag „Ich bin ein babi Koala“. Beide sind zu Hause die ältesten Geschwister, Babsi ist auch in der Schule das älteste Mädchen. Vor ein paar Wochen hat sie noch eine kleine Schwester bekommen. Es scheint, daß sie in den Briefen ihre regressiven Wünsche äußern kann und nicht nur immer die Große – Schwester – sein muß. Ich hatte das Photo eines Muskelmannes aus der Illustrierten „STERN“ herausgeschnitten und es an Boris mit der Enge geschickt „Willst du auch mal so ein starker Mann werden?“. Boris markiert gelegentlich den starken Macker. Deshalb nahm ich an, daß der Muskelprotz für ihn ein Vorbild sein könnte.
Er verneint dies heftig in seinem Brief und schreibt weiter „CH WIL AIN KENA (Kellner, M.P.) WERDI FRITZ WIRD KOCH ROLF WIRD AUCH KELNA UND PETER WIRD AUCH KOCH WiR ABAITEN SUSAMEN COMSDU AUCH MAL ESSEN“. Die Antwort von Boris verblüfft mich, seine klaren Vorstellungen über seine berufliche Zukunft, diese zudem eingebettet in ein kollektives Selbstverständnis. Ganz deutlich sagt der Brief nicht nur etwas über die Zukunft von Boris, sondern auch etwas über seine Gegenwart aus. Boris verbringt viel Schulzeit in seiner Freundesgruppe, organisiert einen Großteil des Schultages selbst bzw. mit den anderen. Bei gutem Wetter (im Sommer) hält er sich viel draußen auf. So – oder so ähnlich – entsteht wohl ein Kinderkollekiv und eine Kinderkultur.
Karl hatte sich heftig mit Miriam beim Cafe‘ gestritten. Das Cafe‘ war lange Jahre ein Dauerprojekt an der Freien Schule. Donnerstags wurden von den Kindern Brötchen, Kaffee, Milch, manchmal auch Limonade, Plätzchen oder Kuchen ausgegeben. Dabei mußten Erwachsene mit Hartgeld, Kinder durften mit Pappgeld bezahlen. An diesem Tag will insbesondere Miriam buchstäblich nur die Schokoladenseite des Cafe‘s mitnehmen und sich der Aufräumpflicht entziehen. Auch andere Kinder wollen sich dann vor dem ungeliebten Aufräumen drücken. Bedingung für die Teilnahme am Cafe‘ ist aber seit jeher, daß anschließend von den Kindern Tische, Küche, Geschirr etc. gereinigt werden. Da die Kinder die Vereinbarung brechen, schließt Karl für die nächsten Wochen das Cafe‘.
Daraufhin schreibt Miriam am nächsten Tag an Karl folgenden Brief: „DOFER KARL DU FAST KESTAN GANSCHON DOF“ und droht im folgenden Brief „ACH HERCHE KARL DU. BIST JA NICHT GESCHEIT WEN DUKEI CAFE MER .MACH ST WURST DU ES BUSEN“. Einmal erleben die großen Mädchen, wie die Lehrerin Astrid nicht nur traurig ist, sondern sehr stark an ihrer Person und ihren Fähigkeiten zweifelt. Daraufhin schicken die drei Astrid folgende Zeilen: „Ju machst beschtimt nichts falsch wir fi- den du machst gar nichstfschalsch wier finden sogar gut das du an diser Schule bist vile grüse von Susi, Hille und Babsi.‘ Was hätte Astrid mehr helfen können als solche tröstenden und ermutigenden Worte von den Kindern?
Uli schreibt an seinen Lehrer Karl einen Brief, auf dessen Vorderseite ebenfalls ein Herz zum Aufklappen befestigt ist. Innen steht zwischen vielen lila Klecksen „ICH FAND DIG- ESCHCHTE SON“ Sybille schreibt auf eine weiße Pappe in Postkartengröße in Ber und gelber arbe „Lieber Karl DU bist lusTig“.
Martin faltet ein quadratisches, _rotes Faltpapierr in der Diagonalen, schneidet verschiedene Formen heraus und schreibt auf das so entstandene symmetrische, mit Löchern und Einbuchtungen versehene Blatt „WEN DU MiR NOR EIN BRIF SCHRAIPST DAN BiN iCH DEIN BESTA FROINT.“ Ich schreibe ihm noch einen Brief.
Karl hatte sich heftig mit Miriam beim Cafe‘ gestritten. Das Cafe‘ war lange Jahre ein Dauerprojekt an der Freien Schule. Donnerstags wurden von den Kindern Brötchen, Kaffee, Milch, manchmal auch Limonade, Plätzchen oder Kuchen ausgegeben. Dabei mußten Erwachsene mit Hartgeld, Kinder durften mit Pappgeld bezahlen. An diesem Tag will insbesondere Miriam buchstäblich nur die Schokoladenseite des Cafe‘s mitnehmen und sich der Aufräumpflicht entziehen. Auch andere Kinder wollen sich dann vor dem ungeliebten Aufräumen drücken. Bedingung für die Teilnahme am Cafe‘ ist aber seit jeher, daß anschließend von den Kindern Tische, Küche, Geschirr etc. gereinigt werden. Da die Kinder die Vereinbarung brechen, schließt Karl für die nächsten Wochen das Cafe‘.
Daraufhin schreibt Miriam am nächsten Tag an Karl folgenden Brief: „DOFER KARL DU FAST KESTAN GANSCHON DOF“ und droht im folgenden Brief „ACH HERCHE KARL DU. BIST JA NICHT GESCHEIT WEN DUKEI CAFE MER .MACH ST WURST DU ES BUSEN“. Einmal erleben die großen Mädchen, wie die Lehrerin Astrid nicht nur traurig ist, sondern sehr stark an ihrer Person und ihren Fähigkeiten zweifelt. Daraufhin schicken die drei Astrid folgende Zeilen: „Ju machst beschtimt nichts falsch wir fiden du machst gar nichstfschalsch wier finden sogar gut das du an diser Schule bist vile grüse von Susi, Hille und Babsi.‘ Was hätte Astrid mehr helfen können als solche tröstenden und ermutigenden Worte von den Kindern?
Uli schreibt an seinen Lehrer Karl einen Brief, auf dessen Vorderseite ebenfalls ein Herz zum Aufklappen befestigt ist. Innen steht zwischen vielen lila Klecksen „ICH FAND DIG- ESCHCHTE SON“ Sybille schreibt auf eine weiße Pappe in Postkartengröße in Ber und gelber arbe „Lieber Karl DU bist lusTig“.
Martin faltet ein quadratisches, rotes Faltpapier in der Diagonalen, schneidet verschiedene Formen heraus und schreibt auf das so entstandene symmetrische, mit Löchern und Einbuchtungen versehene Blatt „WEN DU MiR NOR EIN BRIF SCHRAIPST DAN BiN iCH DEIN BESTA FROINT.“ Ich schreibe ihm noch einen Brief.
Astrid erfindet manchmal Geschichten zum Weiterschreiben an die Kinder. Die Geschichte über die Entstehung unserer Erde beginnt nach dieser Version so: „Es war einmal vor langer, langer Zeit ein großes Meer. Und es gab kein Land, kein Stück Erde. Aber es gab die Ente Agaguk. Sie wollte ein Ei legen und es ausbrüten. Aber es gab ja kein Land, wo sie hätte das Nest hinbauen können. Und weil es kein Land gab, gab es natürlich auch kein Gras und keine Hölzchen aus dem sie das Nest bauen konnte. Weißt Du was sie gemacht hat?“
Und Jana fährt so fort: „Ja und dann hat sih ein kleines Vöglein ausgebrütet und hat sich gefroit dann ist die Welt entschanden.“ Offenbar hat das Kind mit dem fehlenden Land keine logischen Probleme. Dann ist es eben eine Ente, die im Wasser brüten konnte.
Thomas hat an seiner vorigen Schule eine Geheimschrift gelernt. Eines Tages schreibt er den jüngeren Schulkindern folgende Zeilen: „Kökunnt Illohr dilloemba Schrilloftlembasemban Thokumallos“ Dieser Brief löst zwiespältige Gefühle bei den Jüngeren aus, eine Mischung aus Begierde, den Text zu entschlüsseln, Wut über die Geheimniskrämerei und Besserwisserei und schließlich angeblicher Gleichgültigkeit („interessiert mich doch nicht“).
Karl weist die Kinder dann in die Geheimnisse dieser Schrift ein. An die Vokale werden bestimmte Silben angehängt, an „0“ z.B. „ku“ usw. Am nächsten Tag schreibt er selbst einen Brief in dieser Geheimschrift. Die jüngeren Kinder können den Text entziffern, trotzdem – oder gerade deshalb – schickt Konrad wutentbrannt den Brief postwendend mit den Worten zurück: „HIR HART iR DEN PLOLEN PRIF CURUK“
Ich verspreche Konrad und den anderen Kindern der jüngeren Schulgruppe, ihnen eine noch schwierigere Geheimschrift beizubringen. Bei ihr sollen nicht nur an die fünf Vokale etwas angehängt, sondern alle Buchstaben in ihrer Bedeutung vertauscht werden. Aus A wird z.B. F, B verwandelt sich in G usw. Mit Hilfe dieses Codes schreiben wir einen Geheimbrief an die älteren Schulkinder, der sich gewaschen hatte. Leider ist er nicht mehr erhalten. Am. nächsten Tag kommt Konrad auf die Idee, einen Geheimbrief lediglich mit Zahlen zu schreiben. Ich erhalte folgenden Brief:
16 13 6 5 17 13 12 7 5 9 16 11 9 23 8 13 22 11 25 24 8 9 18 11 9 12 5 17 20 22 13 10 15 5 18 23 24 8 25 18 13 9 18 23 13 10 5 18 26 19 18 17 5 16 24 9
Ganz schön pfiffig, der Bursche. Er hat nämlich einen eigenen Code entwickelt, wie es der Leser sicherlich leicht herausfinden kann. Später schreiben auch die älteren Kinder solche Zahlenbriefe.
Der im Frühjahr 1990 eingerichtete Schulbriefkasten hat einen Sog auf das Schreiben der Kinder ausgeübt wie selten zuvor. Offensichtlich hatten wir eine Situation geschaffen, die für die Kinder sinnvoll, Konkret und zugleich komplex genug war, um sie zum (Briefe-) Schreiben zu veranlassen.
Die Briefe stellen in mehrerer Hinsicht eine Momentaufnahme dar: Sie sind eine „spontane Mitteilung“ der einzelnen Kinder und sind an eine bestimmte Situation geknüpft. Sie geben keine Auskunft darüber, ob und welche Veränderungen ein Kind beim (Recht-) Schreiben vollzogen hat, sprich, ob es nach fünf Wochen besser als vorher schreiben konnte.
Die meisten SchreiberInnen machen ihren Lebensraum, ihre eigene Situation und ihr Verhältnis zum Adressaten bzw. zur Adressatin zum Gegenstand des Briefes. Sogenannte „Sachthemen“ stehen eher im Hintergrund. Dies entspricht einerseits dem Charakter von persönlichen Briefen, die oft freundschaftliche, vertrauliche, ja intime Botschaften enthalten, andererseits der Tatsache, daß die Freie Schule Marburg wesentlich auch Lebensraum der Kinder darstellt. Einen großen Teil ihres Alltages verbringen sie damit, Beziehungen zu klären, Freundschaften einzugehen und immer wieder auf ihre Tragfähigkeit und Aktualität hin zu überprüfen. So sind die Briefe sowohl Produkt und Spiegel der vorhandenen Beziehungen als auch Teil ihrer Bestätigung und Veränderung. Von einigen Briefen war ich persönlich sehr berührt, so unverblümt haben die Kinder manches ausgedrückt.
Freinets Beobachtungen scheinen auch für unsere SchreiberInnen zuzutreffen. Sie drücken in den Briefen ihre Zu- und Abneigungen aus, ihre (Mit-)Gefühle, ihre Erlebnisse und Sichtweisen. Daß die Kinder an unserer Schule „auf ihren eigenen Interessen ‘beharren“ und „sich weniger schnell wegdrängen lassen“, erfahren wir tagtäglich. (Chr. Koitka, a.a.O) Dies freut uns, strengt uns aber auch an. Viel „einfacher“ wäre es doch manchmal, die Kinder täten einfach das, was wir wollten. Die Gründe für ihr vielfach offenes und selbstbewußtes Verhalten sehe ich nur zum geringeren Teil im „Freien Text“ angesiedelt. Für viel ausschlaggebender halte ich die gesamten Sozialprozesse und Rahmenbedingungen an unserer Schule. Sie sind recht komplex und zum größten Teil gerade nicht schriftlich formuliert. Einen kleinen Einblick haben die Briefe der Kinder an uns Erwachsenen gegeben. Weitgehend ausgespart blieben Briefe bzw. soziale Beziehungen unter den Kindern, und völlig ausgeblendet blieb die Erwachsenenseite. Damit meine ich weniger die von uns LehrerInnen an die Kinder geschriebenen Briefe, sondern all die Prozesse und Diskussionen, die unseren Schulalltag begleiten, reflektieren, mitprägen, hemmen, fördern usw. Diese Prozesse auf Erwachsenenseite prägen entscheidend den Schulalltag, spannen den Rahmen auf, innerhalb dessen sich das Schulgeschehen abspielt und z.B. auch „spontane“ Kinderbriefe verfaßt werden. Ihre ausführliche Beschreibung erforderte einen weiteren Artikel oder ein eigenes Buch.
Uns beschäftigt etwa die Frage, wie weit ein solches „Schreibprojekt“, trägt. Die Kinder sind verschieden, nutzen den Schulbriefkasten in unterschiedlicher Weise, manche viel, manche weniger. Einigen Kindern habe ich gerade deswegen einen Brief geschickt, um sie zum Schreiben zu ermuntern. Der Schulbriefkasten bzw. die Kinderbriefe sind nur ein Beispiel für unsere Suche nach Situationen, in und mit denen wir Kinder zum Schreiben auffordern wollen. In zahlreichen anderen Projekten galt und gilt es zu schreiben, etwa Einkaufszettel und Speisekarten für das Cafe, Plakate für Zirkusvorführungen und Ausstellungen, Comics, Fotogeschichten usw. Solche Situationen reichen aber nicht für alle Kinder zum Schreibenlernen aus. Deswegen richten wir von Zeit zu Zeit Kurse zur Schreibschrift und Rechtschreibung ein. Die Kurse sind in der Regel freiwillig, oft gut besucht. In manchen Fällen verpflichten wir aber auch einzelne Kinder zur Teilnahme an einem solchen Kurs, wenn wir LehrerInnen den Eindruck haben, daß sich ein Kind längere Zeit „gedrückt“ hat und mit dem Kurs eine – innere – Hürde überwinden kann. Verpflichtend sind etwa auch Grammatikkurse für die Kinder des 6. Jahrganges zur Vorbereitung auf den Übergang zu Regelschulen.
Kindern ist es nicht oder nur schwer möglich zu schreiben, wenn ihre Energien blockiert bzw. anderweitig gebunden sind. Einige Kinder konnten zeitweise nicht schreiben, weil sie Trennungen ihrer Eltern oder Erfahrungen an Regelschulen verarbeiten mußten. In anderen Fällen wurde das Schreiben durch Kommunikationsstörungen zwischen EIternhaus und Schule beeinträchtigt: Da die Kinder – angeblich oder tatsächlich – in der Schule nichts schrieben, mußten sie sich zu Hause an den Schreib(!)tisch setzen. Und weil sie zu Hause schon ihr Schreibsoll erfüllten, hatten die Kinder kein Interesse daran, in der Schule noch etwas zu Papier zu bringen usw. (Da wir mit den entsprechenden Eltern keine Einigung erzielen konnten, haben sie und ihre Kinder inzwischen unsere Schule verlassen.) So bestätigte sich für uns auf drastische Weise der – in unserem Konzept niedergelegte – Zusammenhang vom sozialen, emotionalen und kognitiven Lernen.
Jetzt (November 1991) gehen die ältesten Kinder in das 6. Schuljahr. Sie kritisieren heftig oder belächeln milde die Rechtschreibfehler der Jüngeren. Den Schulbriefkasten gibt es nach wie vor. Inzwischen haben wir einen aus Holz gefertigt. Er wird mal mehr, mal weniger genutzt. Zeitweise ist wochenlang keine Post im Briefkasten zu finden. Dann löst plötzlich ein einziger Brief eine Schreiblawine aus, die nach ein paar Tagen oder Wochen wieder zum Erliegen kommt.
Michael Plappert, 1991
Die Namen der Kinder und meiner KollegInnen habe ich auf ihren Wunsch hin geändert.
Dieser Artikel stellt einen erheblich gekürzte und überarbeitete Fassung einer Hausarbeit da, die ich im Jahr 1990 für das Zusatzstudium der Grundschulpädagogik schrieb.